Stationendrama
Es war ein Kuriosum der Operngeschichte, eine Art Doppel-Uraufführung in einem Zeitraum von vier Monaten: Im Dezember 1925 kam an der Berliner Staatsoper Alban Bergs „Wozzeck“ heraus, die grandiose Vertonung des grandiosen Büchner-Dramas; im April 1926 brachte das Stadttheater Bremen eine Opernfassung desselben Stoffes von seinem damaligen Generalmusikdirektor Manfred Gurlitt auf die Bühne – ohne dass beide Komponisten voneinander gewusst hätten. Jetzt – Kuriosum Nummer zwei – gab es eine ganz ähnliche Konstellation zwischen den Theatern Bremen und Bremerhaven: Genau drei Wochen nach der Premiere des Berg´schen „Wozzeck“ in Bremen konnte man in Bremerhaven das Parallelwerk von Gurlitt erleben.
Die beiden Opern, obwohl in vielen Passagen textidentisch, unterscheiden sich doch deutlich in ihrer Machart. Bergs atonale, aber ungemein expressive Komposition fasst den Stoff in eine musikalisch komplexe dreiaktige Form, während Gurlitt das Stück als schlichtes Stationendrama behandelt, in dem die einzelnen Szenen hart und ohne verbindende Zwischenspiele nebeneinandergesetzt sind. Die beiden Inszenierungen tragen diesen Unterschieden Rechnung: Das Bühnenbild in Bremen zeigt eine kunstvoll komplizierte Verschachtelung der einzelnen Spielorte, in Bremerhaven aht die Handlung eine einfachere Struktur (Ausstattung: Mathias Rümmler, Inszenierung: Robert Lehmeier): Das Geschehen entwickelt sich, indem aus der Gesamtgruppe der Mitwirkenden, die sich von Anfang an in einer Art kahlem Biergarten auf der sonst leeren, in kalt gleißendes Neonlicht getauchten Bühne befindet, jeweils die einer Szene zugehörigen Personen heraustreten.
Dabei gelingen dem Regisseur beklemmende Wirkungen. Etwa wenn er Maries Kind als behindert darstellen lässt und damit für die ohnehin von Problemen belastete Paarbeziehung zwischen Wozzeck und Marie eine weitere Schwierigkeit ins Spiel bringt. Oder wenn – ein berührender Moment – eben dieses Kind in seiner Unbewusstheit kurz vor dem Mord nach Wozzeck zu greifen und ihn an der Tat zu hindern versucht. Das pervertierte Märchen von den Sterntalern, in der Büchner´schen Vorlage eine Schlüsselszene und von Gurlitt (im Gegensatz zu Berg) auch in diesem Rang belassen, wird nicht von der Großmutter (hier der „alten Frau“) direkt erzählt, sondern sie flüstert es, offenbar ihrer Greisinnenstimme nicht mehr mächtig, Margaret ins Ohr, die es dann an deren Statt vorträgt. Makaber schließlich der von Gurlitt als „Klage um Wozzeck“ übertitelte Schluss-Epilog, zu dessen elegischen Klängen jedem der Mitwirkenden ein gelb leuchtender Luftballon mit fröhlichem Smiley-Gesicht in die Hand gedrückt wird.
Für die Gesangssolisten bringt Bremerhaven eine stimmige Besetzung zusammen. Voran Filippo Bettoschi als leidender, geknechteter Wozzeck mit szenischer Präsenz und einem subtil phrasierenden, expressionsfähigen Bariton. Auch Inga-Britt Andersson überzeugt in der Partie der Marie, die Gurlitt speziell für seine damalige Frau Maria Hartow und deren auch für extreme Höhen geieignete Sopran-Tessitura geschrieben hatte. Das Philharmonische Orchester wird unter Marc Niemann seinem Part mit den vor allem kammermusikalisch orientierten Instrumentalkonstellationen bestens gerecht. Fazit dieses szenisch wie musikalisch gelungenen Oopernabends: Auch der „andere“ „Wozzeck“ ist aller Mühe wert.