Wozzeck – Nordseezeitung

WozzeckEs gibt kein Entkommen

„Wir arme Leut“ heißt es in Manfred Gurlitts musikalischer Tragödie „Wozzeck“. Regisseur Robert Lehmeier macht aus Büchners Dramenfragment im Großen Haus des Stadttheaters Bremerhaven eine Operninszenierung wie aus einem Guss.

„Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut“. Kein Ort, nirgends und überall, der Vorhang hob sich vor Bierbänken und Biertischen unter nackten Neonröhren. Die Solisten und der Opernchor saßen auf der sich fast unmerklich drehenden Bühne, die Kostüme reichten vom Trainingsanzug zum Pelzkragen, von der Kittelschürze zum Minirock. Ein aus der Zeit gerückter Raum, der auf uns alle verweist, während Wozzeck zu Beginn seinen Hauptmann rasiert: „Langsam, Wozzeck, langsam. Er sieht immer so verhetzt aus. Ein guter Mensch tut das nicht“. Ist es ein Wartesaal? Oder doch ein Irrenhaus?

Menschen, die nicht mehr gebraucht werden, die aus etwas herausgefallen sind und nur noch vor sich hin kreisen: Robert Lehmeiers Tableau zeigt eine Gesellschaft ohne Liebe, ohne Empathie und Utopie. Es gibt für niemanden ein Entkommen, die abrupten Sprünge der Handlung meisterten der Regisseur und sein Ausstatter Mathias Rümmler in einem gleichbleibenden und dennoch variablen Bühnenbild. Die Leuchtröhren wurden abgesenkt und flackerten wie Lichtorgeln, die Bänke standen in einem klaustrophobischen Keller, in einer Kirche oder auf einem schnell rotierenden Karussell.

Bei der Umsetzung der Geschichte vom gedemütigten Soldaten, der aus Eifersucht und tiefer Verzweiflung seine Freundin ersticht, konnte sich Lehmeier ganz auf sein homogenes Ensemble verlassen. Filippo Bettoschi verlieh dem von Wahnvorstellungen geplagten Wozzeck auch schauspielerisch klare Konturen, als Marie stand ihm Gast Inga-Britt Andersson in nichts nach. Leo Yeun-Ku Chu (Hauptmann), Tobias Haaks (Andres) und Thomas Burger (Doktor) überzeugten in ihren Rollen, Henryk Böhm gab mit roten Stiefeln an den Händen einen markant männlichen Tambourmajor.

Ein Höhepunkt dann das von Carolin Löffler gesungene und von einer alten Frau (Rietje Riediger-van Overbeeke) soufflierte Märchen vom Waisenkind, das in den Himmel will und sieht, dass der Mond nur ein faules Stück Holz, die Sonne eine verwelkte Sonnenblume und die Sterne aufgespießte goldene Mücken sind. Maries behindertes Kind (Andrej Albrecht) war ohnehin wohl der ärmste Mensch im Saal, ein Extralob verdiente sich der Opernchor, der sehr beweglich für starke Bilder sorgte.

… Es passte zu Lehmeiers in sich schlüssiger Inszenierung, dass der melancholisch, ja beinahe versöhnlich klingende Epilog mit an den Chor verteilten Smiley-Luftballons gebrochen wurde, bevor die Oper mit „Wir arme Leut“ leise ausklang. Der Schlussapplaus setzte zuerst zögernd ein, steigerte sich und hielt noch lange an. Der Bremerhavener „Wozzeck“ ist keine leichte Kost, aber ohne Frage ein Theatererlebnis.

Powered by WordPress · Theme: Mayer by Pressware.